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NGBK

Oranienstr. 25
10999 Berlin-Kreuzberg
Tel. 030 - 616 513-0, Fax 616 513-77
täglich 12 - 18.30 Uhr
ngbk@ngbk.de
www.ngbk.de
aktuelle Ausstellung / current exhibition
vorausgegangene Ausstellung / previous exhibition

 

13.12. 2008 - 01.02. 2009

unvermittelt

für einen Arbeitsbegriff jenseits von Überarbeitung und Mangel


Beteiligte: Ausgliederungsservice, bankleer, Bild-wechsel,
chto delat, Chor der Tätigen , city mine(d),
Die Heilige Kirche der letzten drei Arbeitstage, G-bliss
productions, Sascha Göttling, Institut für
Primärenergieforschung , Kiez ->To Go, m7red ,
Karin Michalski / Renate Lorenz, Netzwerk Grund-einkommen,
Private Emission Trade, Sabotage-agentur,
unhaltbar/leere Versprechungen, UNWETTER,
Malte Wilms, Zene na delu - und die Projektgruppe
"/unvermittelt" der NGBK: Danijela Cenan, Uli Ertl,
Frauke Hehl, Rut Waldeyer und Nadine Wothe

 

 

 

Neue Gesellschaft für Bildende Kunst New Society for Visual Art

Sehr geehrte Leser_innen,

die jour fixe initiative berlin ist zu Gast in der NGBK

souveränitäten
von staatsmenschen und staatsmaschinen

(Jeweils um 18 Uhr im Veransatltungsraum der NGBK, Oranienstraße 25, 1.OG)

Ausführliche Informationen finden Sie im Exposé weiter unten.
www.jourfixe.net <%20www.jourfixe.net>

Sonntag, 1. Februar
Alex Demirovic (Frankfurt a. M.)
Kritisch-materialistische Staatstheorie

Wie sind die Auswirkungen der Internationalisierung des Kapitals und der Globalisie-rung auf den Nationalstaat zu bestimmen? Welche Folgen haben diese Entwicklungen für aktuelle Formen von Subjektivität? Alex Demirovic umreißt in seinem Vortrag aktu-elle Ansätze kritisch-materialistischer Staatstheorie. Bei Übereinstimmungen in der Beschreibung der Krise und der Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft gibt es erhebliche Unklarheiten hinsichtlich der Bestimmung der Form politischer Herrschaft. Der Bogen theo¬retischer Alternativen spannt sich von der Annahme einer Fortexistenz des Nationalstaats als hartem Kern der Machtausübung hin zum Postulat postmoder-ner Souveränität des Empire. Demirovic geht von einer Transnationalisierung des Staates aus, problematisiert jedoch die These einer neuen Form staatlicher Souveräni-tät, eines Weltstaates. Er entwickelt vielmehr Elemente eines transnationalen Netz-werkstaates, mit dem neue Formen der Gouvernementalität praktiziert werden.

Sonntag, 1. März
Alain Brossat (Paris)
Die subtilen Formen der Regierung der Lebenden ­ Leben erzeugen, leben lassen, Leben verkürzen

Eine subtile Dialektik etabliert sich zwischen der Art und Weise, in der die gegenwärti-ge Biopolitik ihr "Protektorat" über die lebenden Körper errichtet, und der grundlegen-den Dimension der Regierung der Lebenden, die darin besteht, das Leben zu erschwe-ren, das Leben der Individuen auf ein Überleben zu reduzieren, die Reproduktion der Existenz zu sichern. Die von allen modernen Regierungen betriebene "Politik"
­ vor allem in den liberalen Demokratien, also in den reichsten Ländern
­ besteht nicht nur darin, die Individuen zu ermuntern, in den Produktion-Konsum-Zyklus einzutreten und darin zu versinken, statt sich in Aktionen zu verlieren, die nicht von unmittelbaren Inte-ressen geleitet sind, im öffentlichen Raum zu agieren oder ihre Autonomie zu entwi-ckeln. Sie besteht vielleicht vor allem auch darin, Lebensdispositive einzurichten, Le-bensformen zu befördern, damit die Fähigkeit der Individuen erschwert wird, ihren Le-bensstil selbst zu wählen, sich für eine Ethik zu entscheiden, die ihnen eigen ist, für Ideale, die sie selbst autonom entwickelt haben, für Begriffe wie Glück oder Freiheit.

Sonntag, 5. April
Ingrid Artus (Nürnberg)
Herrschaft, Integration und Widerstand im prekären Dienstleistungsbereich

Die Lohnarbeit verändert sich seit Jahrzehnten: Immer häufiger wird sie im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Reinigungs- und Sicherheitsgewerbe oder Transportbereich verrichtet. Der Lohn ist niedrig, die Arbeitszeiten sind zerstückelt und flexibel, die Beschäftigungsverhältnisse unsicher. Herrschafts- und Kontrollmethoden sind in diesen Bereichen oft sehr repressiv ­ sie werden jedoch auch mit Elementen einer vergemeinschaftenden Sozialintegration kombiniert. Wie kommt es, dass selbst unter äußerst prekären Bedingungen Integrationspolitiken eine reale Wirkung entfalten? Warum identifizieren sich prekär Beschäftigte mitunter mit ihrer eigenen Ausbeutung? Welche Rolle spielen Gewerkschaften oder autonome Organisierungsversuche? Welche konkreten Kämpfe und Widerstandsmöglichkeiten gibt es unter diesen Bedingungen?

Sonntag, 3. Mai
Bob Jessop (Lancaster)
Was kommt nach dem Neoliberalismus?

Seit über einem Jahr prophezeien Experten und Politiker das Ende des Neoliberalis-mus als Folge der sich immer weiter entfaltenden Finanzkrise, ihrer weltweiten Auswir-kungen und ihrer Ausweitung zu einer globalen Krise der "Realwirtschaft". Diskussio-nen über die Ursachen der Krise, über die Frage, wer für sie verantwortlich ist, und über mögliche Auswege halten an. Dabei stellt sich die Frage nach der Zukunft der verschiedenen Formen des Neoliberalismus. Der Vortrag untersucht, ob die jüngsten politischen Veränderungen eine neo-etatistische oder neo-korporatistische Anpassung im Rahmen des neoliberalen Regimes darstellen, oder aber einen grundsätzlichen Bruch mit dem Neoliberalismus in allen seinen Ausprägungen. Bob Jessop diskutiert insbesondere die Anzeichen für die Flexibilität des Neoliberalismus als ökonomisches und politisches Projekt und fragt, ob es eine langfristige Alternative gibt, die ebenso hegemonial (oder wenigstens dominant) werden kann, wie es der Neoliberalismus auf seinem Höhepunkt war, und die sich nicht nur in bestimmten Zonen der Stabilität in-nerhalb der Weltökonomie und Weltgesellschaft, sondern auch im globalen Maßstab als tragfähig erweist. Vortrag in englischer Sprache.

Sonntag, 7. Juni
Michael Koltan (Freiburg i. Br.)
Lenins Staat und Revolution Theorie und Praxis der Russischen Revolution

Im Sommer 1917, zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution, verfasste Lenin seine legendäre Broschüre "Staat und Revolution". Auf den ersten Blick verblüfft das dort formulierte Programm: Lenins zentrale Forderung ist, dass die Staatsmacht nicht erobert, sondern dass sie zerschlagen werden muss. Und die "Diktatur des Proletari-ats", die in einer Übergangszeit die Feinde der Revolution niederhalten soll, wird nicht als Diktatur der Partei, sondern eine Diktatur der bewaffneten Räte entworfen. Ange-sichts der weiteren Entwicklung der Sowjetunion nach der Revolution muten die in "Staat und Revolution" propagierten Ziele seltsam an. Der Vortrag stellt sich deshalb einige Fragen: Handelt es sich einfach um eine zynische Propagandaschrift, deren Programmatik nur so lange Bestand haben sollte, wie die Bolschewiki noch in der Min-derheit waren? Oder zerschellten ernstgemeinte, hehre Ideale zwangsläufig an der Bürgerkriegssituation nach dem Oktober? Oder enthüllt uns gar eine genaue Lektüre, dass "Staat und Revolution" keineswegs im Widerspruch zur späteren stalinistischen Praxis stand?

Sonntag, 5. Juli
Ulrich Bröckling (Leipzig)
Anders anders sein Zeitgenössische Subjektanrufungen

Zeitgenössische Subjektanrufungen fordern von den Einzelnen Distinktion statt Konformität, Überschreitung statt Regelbefolgung, kurzum: sie fordern, anders zu sein. Kritik steht damit vor der nicht minder paradoxen Aufgabe, anders anders zu sein. Auf einen festen Standpunkt, von dem aus sie ihr Nein formulieren könnte, muss sie ver-zichten. Dem Widerspruch einer zur Norm erhobenen Abweichung entkommt man e-benso wenig mit einem Gestus der Überbietung. Die Künstler des Anders-anders-Seins beschleunigen nicht einfach nur den Wettbewerb der Alteritäten und präsentie-ren sich keineswegs bloß als geschicktere Unternehmer in eigener Sache. Beharrlich setzen sie dem Distinktionszwang ihre Indifferenz entgegen, dem Imperativ der Nut-zenmaximierung die Spiele der Nutzlosigkeit und bestehen darauf, dass es jenseits der Nötigung zu wählen und der Unfreiheit, nicht wählen zu dürfen, noch etwas Drittes gibt: die Freiheit, nicht wählen zu müssen.

Alle Veranstaltungen jeweils um 18 Uhr im Veranstaltungsraum der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst [NGBK] | Oranienstraße 25 | D-10999 Berlin-Kreuzberg | U-Kottbusser Tor | Bus M29


souveränitäten
von staatsmenschen und staatsmaschinen

Die Finanzkrise hat der Diskussion um den Staat eine unerwartete Wendung gegeben. Im Neoliberalismus galt der Staat als ineffizientes Auslaufmodell. Auch weite Teile der globalisierungskritischen Bewegung diagnostizierten einen zunehmenden Souveräni-tätsverlust der Nationalstaaten zugunsten eines weltumspannenden Empires. Doch gerade die Krise des Finanzmarktes lässt den Staat in seiner Funktion als Verwalter von Krisen, die die kapitalistische Verfassung der Gesellschaft permanent hervorruft, wieder erstarken. Die Marx´sche Feststellung, dass der kapitalistische Markt den Staat als Regulator braucht, damit er nicht sein eigenes Fundament untergräbt, scheint wie-der aktuell zu sein. Die gegenwärtigen Transformationen bieten Anlass, nach der Gül-tigkeit der kritischen Staatstheorien zu fragen, nach der Souveränität des Staates, nach der Souveränität der Subjekte und ihres Verhältnisses zueinander.

Der moderne Staat konzentriert in vormals ungekanntem Ausmaß Herrschaft. Hegel identifiziert zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Staat mit dem Allgemeinen und be-zeichnet ihn als die höchste Form des "objektiven und sittlichen Geistes". Hegels Staatstheorie war als Einspruch gegen feudale Partikularinteressen formuliert worden. Friedrich Engels interpretiert den Staat neu, indem er das Allgemeine in der historisch-spezifischen, kapitalistischen For¬ma¬tion begründet sah: "Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist." Auch Nicolas Poulantzas stellt den Staat ins Verhältnis zum Klassenkampf und analysiert ihn als seine Verdichtung. Die jeweilige Form des Staates gebe Aufschluss über den aktuellen Stand der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen.
Das Wohlergehen des Einzelnen war nie Zweck der kapitalistischen Produktionsweise noch Bestandteil der Staatsräson. Zwar bot der auf Massenkonsum und Klassenkom-promissen fundierte fordistische Wohlfahrtsstaat den meisten Lohnabhängigen in den Metropolen bessere Lebensbedingungen. Doch erweist sich der Rückgriff auf den sor-genden und gerecht verteilenden Staat sozialdemokratischer Prägung heute als un-taugliches Gegengift zum neoliberalen Kapitalismus, basierte dieser Wohlfahrtsstaat doch auf der rigorosen Ausbeutung des Trikonts, ökologischem Raubbau und Diszipli-nierung der Gesellschaft. Dieser paternalistische Staat wurde von Teilen der Linken im Namen von Individualismus, Freiheit und Kreativität kritisiert. Nach dem Scheitern von 1968 wurden diese Elemente einer ursprünglich emanzipatorischen Kritik als neolibera-le Direktiven für freigesetzte "selbständige" Subjekte reformuliert. Wer den Anforderun-gen des "Selbstregierens" nicht entspricht, wer nicht sein "unternehmerisches Selbst" entwickelt, droht aus der Verwertungskette ins soziale Nichts zu fallen. Soziale Sicher-heit wird durch "Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt" und die Etablierung von Si-cherheitsdispositiven ersetzt, die vor weltweitem Terror und Kriminalität schützen sol-len. Ist dieses doppelte Versprechen der Kitt, der die Untertanen nieder und zugleich zusammenhält? Ist es diese Gleichzeitigkeit aus Drohung und Versprechen, die die Anpassungsleistung des Individuums erzwingt bzw. ermöglicht?

Wir untersuchen in dieser Veranstaltungsreihe Konstitution und Wirkungsweise staatli-cher Macht und befragen verschiedene Staatstheorien nach ihrer Gültigkeit. Hierbei interessieren uns vor allem der Zusammenhang der Souveränität der Staaten nach Innen und Außen sowie die Konstituierung staatlicher Souveränität in den Subjekten. Sind die einzelnen Nationalstaaten suprastaatlichen Institutionen unterworfen, oder geben sie ihre Souveränität oder einen Teil ihrer Souveränität an Bündnisse ab? Verkörpern die Nationalstaaten die letzte Bastion gegen die vollständige Durchdringung der Gesellschaft durch den globalisierten Markt? Wie kann der Staat die handelnden Subjekte, die ihn geschaffen haben und ständig neu erfinden, so fest in seine Apparate einbauen, dass er selbst als handelndes Subjekt erscheint? Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben den Subjekten außerhalb oder gegen den Staat, wenn dieser doch das Allgemeine verkörpert? Wie können kritische Staatstheorien und sozialrevolutionäre politische Praxen den Staat hinterfragen, ohne die erreichten emanzipatorischen Errungenschaften infrage zu stellen? Neuere kritische Staatstheorien versuchen die Auswirkungen der Internationalisierung des Kapitals auf den Nationalstaat näher zu bestimmen. Es geht um die Frage, inwieweit die oftmals unter dem Schlagwort "Globalisierung" subsumierten Transformationen die Annahme rechtfertigen, dass dem Nationalstaat eine fundamentale Erosion droht. Ist er überhaupt noch von Bedeutung oder etablieren sich nicht vielmehr post-nationale Formen politischer Herrschaft? Joachim Hirsch geht davon aus, dass der Typus des fordistischen, nicht aber des nationalen Staates, beseitigt wurde. Eine neue Form des Staates, die er als nationalen Wettbewerbsstaat charakterisiert, sei im Entstehen begriffen. Ein durchaus handlungsfähiger Staat, der seine Handlungsfähigkeit durch eine selektive, auf die Interessen global agierender Einzelkapitale ausgerichtete Politik erweist. "Nach wie vor ist die staatliche Apparatur das Terrain, auf dem sich konkurrie-rende kapitalistische Interessen zu einer Politik des Kapitals verdichten." Auch Saskia Sassen stellt die einfache Dichotomie "national versus global" infrage, die sie mit Blick auf die Globalisierungskritik konstatiert. Unzureichend sei es, den Nationalstaat und das Weltsystem als unterschiedliche Entitäten zu behandeln, "denn die laufenden Transformationsprozesse durchkreuzen dieses binäre Muster in jeder Richtung und durchdringen den Nationalstaat, ja sogar den Staatsapparat als solchen." So sei die Praxis der USA, Häftlinge an Drittländer zu überstellen, wo es einfacher ist, sie zu foltern, ein Beispiel für eine staatliche Territorialität, die national und nicht-national zugleich ist. Dieselbe Struktur erkennt sie auf der Ebene der Finanzzentren, die auf nationalstaatlichen Territorien siedeln und der lokalen Infrastruktur dienen, aber zugleich in größeren Netzwerken aufgehen und sich insofern dem Nationalstaat entziehen.

Mit dem Verhältnis nationaler und globaler Organisation von Herrschaft verändert sich der Zugriff auf die Individuen. Gilles Deleuze sprach 1990 von einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Kaserne, Fabrik und Gefängnis), die die Ablösung der Disziplinargesellschaften durch Kontrollgesellschaften einläute. Aus Deleuzes Perspektive erübrigt sich die Frage, welches Regime das erträglichere sei, in beiden stehen Befreiung und Unterwerfung einander gegenüber. War die Fabrik ein Instrument, die Individuen zu einem verwertbaren Körper zu formieren und zu disziplinieren, so substituiert in der Kontrollgesellschaft das Unternehmen die Fabrik. Man verkündet, die Unternehmen haben eine Seele, und fordert, jeder habe sein Selbst als Unternehmen zu führen. Selbstmotivation und -disziplin stellen mittlerweile eine om-nipräsente Sozialtechnolgie dar. Jede Faser des Selbst wird in den Dienst der Verwer-tung gestellt, Erwerbsarbeit und Leben in Deckung gebracht, die Rivalität - zum Motor der Motivation geadelt - bringt die Individuen zueinander in Gegensatz. Das Ich scheint nicht mehr gespalten zu sein zwischen einer entfremdeten Erwerbsarbeit und der Vorstellung von einem "wirklichen Leben", wie Siegfried Kracauer noch die innere Disposition der Angestellten in den 1920er Jahren entzifferte. Damit verdunkeln sich aber auch die Emanzipationshoffnungen, die sich in den Disziplinargesellschaften auf das entfremdete Kollektivsubjekt bezogen, traditionell das Proletariat.

Der Staat bleibt durch alle Wandlungen hindurch eine beständige, aber dem Subjekt häufig verborgen bleibende Macht, die unter die Haut geht und gefügige, also verwert-bare Körper schafft. In seinen modernen Gestalten verwendet er nicht in erster Linie physische Gewalt, sondern symbolische. Diese sanfte, alltägliche symbolische Gewalt sichert, gemäß Bourdieu, die Anerkennung der Herrschaftsordnung und ihrer sozialen Ungleichheit durch Verkennung. Die Willkür, die der Ordnung der Dinge zugrunde liegt, wird verschleiert, indem sie als selbstverständlich anerkannt und somit verkannt wird. Nicht nur physische Gewalt, rechtlicher Zwang und ökonomische Not kontrollieren demnach die Beherrschten, sondern ebenso die soziale Klassifikation und die symbolische Ordnung. "Alle Macht hat eine symbolische Dimension: Sie muss von den Be-herrschten eine Form von Zustimmung erhalten, die nicht auf der freiwilligen Entschei-dung eines aufgeklärten Bewusstseins beruht, sondern auf der unmittelbaren und vor-reflexiven Unterwerfung des sozialisierten Körpers" (Bourdieu). Die symbolischen In-kraftsetzungen durch staatliche Macht (Bildungsabschlüsse, Pässe, Genehmigungen etc.) haben eine Realität erzeugende Wirkung. Aus willkürlichen Setzungen werden anerkannte Titel, die mit dem Anschein der Natürlichkeit den "Geadelten" Zugänge zur Macht eröffnen, während andere ausgeschlossen bleiben. Dabei befindet sich die Macht des Staates nicht in der Hand einer Herrschaftsclique, sondern ist permanent von Kämpfen und deren Spuren durchzogen, die sich die maßgeblichen herrschenden Klassen auch untereinander im staatlichen Feld liefern. Bei allen Veränderungen hat der Kapitalismus eine Konstante bewahrt: Drei Viertel der Erdbevölkerung leben in äußerstem Elend. Zur Beherrschung dieses wachsenden Heers der "Überflüssigen" an den Rändern der Wohlstandszonen wird nach wie vor auf Herrschaftsmittel der Disziplinar-, wenn nicht sogar der Souveränitätsgesellschaften zurückgegriffen.

Die heutigen Gesellschaften sind von der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Herr-schaftsformen geprägt. Neue Mittel ultraschneller Kontrolle ergänzen die alten Mitteln der Disziplinierung: hochgerüstete Grenzbefestigungen, ein Lagersystem für illegalisierte Migranten an den Rändern der Metropolen, militärische Interventionen sowie ein expandierendes Gefängnissystem, das als klassisches Disziplinarinstrument mit dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen und der Zunahme desozialisierter Erwerbsarbeit einher geht.

Der wirkungsmächtige Irrtum Hegels, der Staat sei das Allgemeine, muss, Jacques Rancière folgend, durch einen kritischen Begriff des Politischen ersetzt werden, der mit den gängigen Entgegensetzungen zwischen Politischem und Gesellschaftlichem bricht. Es geht um eine Rückgewinnung des Konflikts, um Konfrontationen, durch die sich die Subjekte dem Staat entziehen und eigene Kollektive bilden können, um einen Bruch mit der aktuellen Ohnmacht, einen Bruch mit dem Konsens, den sich das "unternehmerische Selbst" zu eigen macht und der die Unterdrückung der überflüssigen Subjekte verkennt. Wie in emanzipatorischem Interesse die Souveränität und die symbolische wie reale Macht des Staates durch die Entwicklung einer Souveränität der ihm unterworfenen Subjekte ersetzt werden können, soll in unserer Reihe diskutiert werden.

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