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Frankfurter Kunstverein

Markt 44
60311 Frankfurt am Main
Tel. 069 - 28 53 30; Fax 069 - 219 314 11
Di - Fr 12-20 Uhr, Sa, So 11-18 Uhr
Führungen jeweils mittwochs um 18 Uhr und sonntags um 17 Uhr
post@fkv.de
http://www.fkv.de
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20.9. - 23.11.1997


Livro de Viagem

Portugiesische Photographie 1854 - 1997

 

 

Kuratoren der Ausstellung: M. Tereza Siza und Peter Weiermair

Pressekonferenz: 18. September 1997, 11 Uhr

Eröffnung: 19. September 1997, 19 Uhr

Zur Ausstellung erscheint ein Katalogbuch im Verlag Edition Sternmle, Zürich.

 

Die diesjährige Ausstellung des Franlirter Kunstvereins aus Anlaß des Länderschwerpunktes der Frankfurter Buchmesse 1997 zeigt unter dem Titel Livro de Viagem (Buch der Reise) eine Retrospektive der portugiesischen Photographie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, kuratiert von Teresa Siza und Peter Weiermair. Diese Würdigung der wesentlichen Photographen Portugals greift nicht nur den Länderschwerpunkt der Buchmesse, Portugal, auf, der Charakter der ausgestellten Arbeiten korrespondiert auch in besonderer Weise mit dem Motto, das die Messe in diesem Jahr gewählt hat. Der Begriff der Reise enthält eine symbolische wie metaphorische Bedeutung.

Technische Raritäten aus den Anfangen der Photographie, der dokumentarische Wert der Aufnahmen, die Präsentation der wichtigsten Photographen des Landes, - Dokumentaristen wie zeitgenössische Künstler, die mit Photographie arbeiten - dies alles fällt in das Spektrum der Ausstellung. Trotz des unterschiedlichen Zugangs zum Medium der Photographie zeichnen sich eine besondere Wahrnehmung der Welt und ein Selbstverständnis ab, die fast allen gezeigten Arbeiten gemein sind. Es ist ein Blick auf die Welt, der durch die Geschichte des Landes geprägt ist, durch die Entdeckungen der Weltreisenden des 15. und 16. Jahrhunderts, die Kolonialisierung sowie den Aufbau eines Weltreiches, aber auch durch dessen Zerfall; prägend ist auch die Armut des Landes, die seine Bewohner irnrner wieder in die Ernigration trieb.

Zentral für das Selbstverständnis der Portugiesen ist das Reisen, das Unterwegssein- oft ein Unterwegssein wider Willen. Der Begriff Saudade Sehnsucht, Fernweh, Heimweh - umschreibt ein Lebensgefühl, das sich in der Literatur des Landes ebenso niederschlug wie in seiner Photographie. Manchmal fehlt dieser melancholische Grundton, insbesondere bei Künstlern, die, wie Jorge Molder, eingewandert sind.

Mit vier thematischen, epochenübergreifenden Schwerpunkten nähert sich die Ausstellung der Geschichte des Landes, den Lebensbedingungen und dem Selbstverständnis der Portugiesen. Dabei verschränkt die Ausstellung historisches Material mit zeitgenössischen Arbeiten.

Ein bürgerliches Land entdecken heißt der erste Teil der Schau. Er nimmt seinen Ausgang von jener Epoche in der Geschichte des Landes, die von Persönlichkeiten wie Alexandre Herculano geprägt wurde, die sich zunächst im Ausland trafen, in Paris, London oder auf der Insel Terceira um im Jahre 1832 zurückzukehren und Portugal für den Liberalismus zu gewinnen.

Die Photographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt die Konstituierung dieser bürgerlichen Vorstellungswelt, ist Zeugnis der Entwicklung einer neuen Mentalität und eines bürgerlichen Selbstverständnisses. Zentrum des bürgerlichen Lebens ist die Stadt, wo die Errungenschaften der neuen Gesellschaft mit Stolz präsentiert werden: Fortschritt und Wohlleben lassen sich ablesen an organisierter Wohltätigkeit, öffentlichen Erholungsstätten, luxuriösen Privatclubs, Heilbädern; Identität wird durch nationale Denkmäler repräsentiert. Auch das Ideal des gesunden Landlebens ist eine Variation des bürgerlichen Selbstverständnisses. Diese Thematik beherrscht die Photographien von Amateuren und professionellen Photographen des 19. Jahrhunderts Frederick Flower, Joaquim Narciso Possidónio da Silva, Rocchini.

Exemplarisch für die Darstellung des technischen Fortschritts im 19. Jahrhundert sind die Arbeiten des deutschen Photographen Emil Biel. Emilio Biel kam neunzehnjährig aus Annaberg in Sachsen als Vertreter einer Firma für Metallknöpfe nach Portugal. Sein photographisches Wissen erwarb er u.a. bei Carlos Relvas, bei dem er die Phototypie lernte. Biel besaß in Porto ein Photogeschäft, das erste mit elektrischem Licht. Als einer der großen Dokumentaristen des 19. Jahrhunderts photographierte Biel die Revolution des Verkehrs im letzten Viertel des Jahrhunderts. Für seine Photographien des Eisenbahnbaus im bergigen Norden Portugals entwickelte er revolutionäre neue Perspektiven und Aufnahmetechniken.

Zeitgleich mit den ersten Kinobildern des Landes entstanden die Bilder des photographischen Neuerers Aurelio da Paz dos Reis. Als Republikaner und Freimaurer war er ein Gegner der Monarchie. Er war Besitzer eines modernen Blumengeschäfts in Porto und photographierte alle wichtigen Ereignisse in Stadt und Land anläßlich der Ausrufung der Republik. In der Ausstellung wird eine Auswahl seiner Arbeiten gezeigt, die auf Reisen nach Brasilien entstanden, dem Ziel portugiesischer Auswanderer und dem Land, dem Portugal auch nach dem Ende der Kolonialzeit durch Handelsbeziehungen eng verbunden blieb.

Die Stadt ist es, die im Werk des historischen Photographen Carlos Calvet und des Zeitgenossen Augusto Alves da Silva die zentrale Rolle spielt. Ihre Photographien sind Zeugnis eines radikalen Perspektivenwechsels. Zusammen mit dem Dichter Cesariny gehörte Carlos Calvet in den vierziger und fünfziger Jahren zu der Gruppe der Surrealisten. Mit großer Klarheit zeichnet er sein Bild der Stadt Lissabon, seiner Fassaden und ihrer Bewohner, erzählt von den schwierige Verhältnissen unter der nicht enden wollenden Diktatur.

In der Installation von Augusto Alves da Silva, einer Kombination von Diaprojektion und Video, ist die Stadt selbst nicht mehr vorhanden: nur kurz blitzt der bekannte Ort auf, Gegenstand der Installation ist aber die Fahrt auf einer Autobahn außerhalb der Stadt. Die Stadt selbst wird weder erreicht noch berührt, ist nur mehr in ihrer Negation präsent. Die Auflösung in Bewegung steht paradigmatisch für ein postmodernes Lebensgefühl, das den Liberalismus und Bürgerstolz einer die Welt der Gegenstände bezeichnenden Photographie des Jahrhundertbeginns abgelöst hat.

In der zweiten Sektion werden, ebenfalls im Zeitvergleich, unter dem Titel Metamorphosen eines Weltreiches die Arbeiten von drei Photographen vorgestellt. Der portugiesische Kolonialismus des 19. Jahrhunderts wird dokumentiert von dem Photographen Cunha Moares: sein Album stammt aus der Zeit der Okkupation Angolas, als man Siedler ins Landesinnere schickte und Farmen gründete. Frei von kolonialistischer Rhetorik zeigen die Arbeiten von Cunha Moares die Weite Angolas und den Stolz seiner Bewohner und werden damit gleichzeitig zum Zeugnis der Trostlosigkeit und der Bedeutungslosigkeit der Weißen in Afrika.

Eine andere Gruppe von Aufnahmen zeugt von der (trotz der kolonialen Besetzung) ungebrochenen Kultur Goas und Dãmaos in Indien.

Eine dritte Gruppe, Aufnahmen eines anonymen Photographen, beschreibt die Diamantengesellschaft Angolas vor dem Kolonialkrieg 1961. In seiner deutlichsten Form offenbart sich hier der kolonialistische Geist von Ausbeutung und Rassismus.

Das Land des Fado. Die dritte Sektion ist den Photographen aus der großen Zeit des Regimes gewidmet: gezeigt werden u. a. Domingos Alvão, Orlando Ribeiro, Fernando de Lemos, sowie Costa Martins und Victor Palla, die inmitten der salazaristischen Kriege den Widerstand in dem faschistisch regierten Land aufzeigten, die Kostbarkeit Lissabons, der Cidade Triste e Alegre. Beispiele des Piktorialismus, wie wir ihn als internationalen Stil in Europa und Amerika kennen, fehlen in Portugal.

Ohne Konflikte für seine Arbeit erlebte der bereits anerkannte Photograph Domingos Alvao den Übergang von der Republik zum Estado Novo. Der große Photograph des Nordens erhielt Aufträge des faschistischen Regimes etwa für die Kolonialausstellung, die im Kristallpalast von Porto gezeigt wurde, oder eine umfassende Dokumentation des Douro, eine Arbeit, die ihn über Jahre in Anspruch nahm. In der Zeit der seichten Salonkultur wußte Domingos Alvao das solide Erbe seines Lehrers Emilio Biel zu bewahren. Alvao ist kein veristischer Photograph, er zeigt den "armen Douro" ohne die Schatten des Elends und der Arbeitslosigkeit. Seine Technik und seine Kenntnis der Region lassen die Panoramabilder, die er aufgenommen hat, zu einem unschätzbaren Dokument der Douro-Landschaft und der Stadtlandschaft Portos werden, die geprägt sind von der Herstellung des Portweins. Das machte ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter der portugiesischen Photographie in einer Epoche der Fortschreibung der ldeologie der Armut - das Portugiesische Haus, a Casa Portugesa, pohre, mas contente -, eine Ideologie, die ebenso falsch wie verhängnisvoll war.

Auf Orlando Ribeiro geht die Gründung des Zentrums für geographische Studien in Lissabon zurück. Seine Photographien entspringen einem wissenschaftlichen und pädagogischen Interesse. Mit dem Anspruch eines Wissenschaftlers bearbeitete er sein Gebiet, erstellte Tausende von Aufnahmen, die von seinem Wissen und seiner Genauigkeit zeugen, dabei aber seine künstlerische Sichtweise verraten.

Viele unangepaßte Portugiesen versuchten, das Regime durch die Ablehnung der offiziellen Kultur zu diskreditieren und haben die Flucht und die Reise nach Innen angetreten. Der Surrealist Fernando de Lemos ist eine der wesentlichen Entdeckungen dieser Ausstellung. Er gehörte zu der abgelehnten und diffamierten Gruppe der surrealistischen Künstler Lissabons und übertrug die surreale Sehweise auf die Photographie.

Am Ende der fünfziger Jahre, als die Regierung Salazar den ersten großen Schock durch die Kandidatur Humberto Delgados erfuhr, die das Land aufrüttelte, bevor es die Unterdrücker wieder in den Griff bekamen, wurde Lisboa, Cidade Triste e Alegre vom Costa Martins und Victor Palla photographiert und später publiziert. Das Buch hatte keinerlei Erfolg. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, daß einige Kopien dieser neorealistischen Beschreibung Lissabons, einer der schönsten und markantesten der Nachkriegszeit, erhalten geblieben sind. Das Album zeigt ein verwandeltes Lissabon, nebelverhangen oder in der Sonne strahlend, mit seinem täglichen Durcheinander, das traurige und heitere Leben in einer geschlossenen Stadt.

 

Die vierte und letzte Sektion schließlich trägt den Titel Labyrinth der Saudade. Die neuen Reisenden sind die Photographen, die die ehemaligen Kolonie in Afrika und Indien bereisten, auf einer vom Unbewußten geleiteten, mystischen Suche, die sie mit den Resten einer verdrängten, ungeliebten Vergangenheit konfrontiert, auf einer Recherche nach der Weite und den Farben der Fremde, dem Ocker des steinigen Bodens, dem Rot des indischen Ozeans unter der sengenden Sonne. Ihre Photographien sind die Antwort auf ein unbestimmtes Verlangen in die Welt hinauszufahren, ohne politische, jedoch mit visuellen Eroberungsideen. Ihre Subjektivität und ihre Ästhetik weisen zurück auf ihre Herkunft. Albano da Silva Pereira, Jose Manuel Rodrigues, Antonio Leitao Marques, Mariano Piçarra und Antonio Julio Duarte sind diese Reisenden der neuen Zeit - sie alle zeichnen sich aus durch die technische Perfektion und die visuelle Sensibilität großer Photographen.

Die Kunst von Helena Almeida steht abseits und ist schwer einzuordnen. Vielleicht sind es der souveräne Einsatz ungewöhnlicher Mittel, die Parallelität unterschiedlicher semantischer Ebenen, die die Faszination ihrer Photographien ausmachen. Ähnliches gilt für Manuel Valente Alves.

Am Ende der Ausstellung stehen als Schlußpunkt und Ausblick die Arbeiten Paulo Nozolinos, Bilder eines Reisenden durch die großen Städte der Welt.

Die Ausstellung beginnt mit den Bildern einer inneren Reise des rationalistischesten Vertreters der portugiesischen Photographie, Jorge Molder (ausgestellt irn Schaufenster im Erdgeschoß), sie schließt mit den emotional-subjektiven Aufnahmen Nozolinos. Dieser Bogen entspricht auch einem portugiesischen Selbstverständnis in seiner Verbindung von Mystik und Rationalität.

 

Text von M. Tereza Siza und Peter Weiermair

redigiert von Bettina Schmitt

 

 

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